Lettische Theaterwoche

Die dunklen Hirsche

von Inga Abele

Mit: Grigory Kofman (Alf Alster)  Eva Jankovsky (Ria Alster)  Sibille Roth (Nadine Alster), Manfred Otto(Opa), Hansgeorg Gantert (August Drannberg), Heiko Schendel (Leon)
Regie: Felix Goldmann; Ausstattung: Jens Uwe Behrend

Auf dem abgelegenen Landgut Tau Panemunne lebt die Familie Alster: der Großvater, sein Sohn Alf, dessen Frau Nadja und Ria, Tochter aus erster Ehe. Alf, ein ehemaliger Biologe, hat nach dem Ende der Sowjetunion mit wechselndem Erfolg sein Glück in verschiedenen Unternehmungen als selbständiger Landwirt erprobt. Sein letztes Experiment, die Züchtung „dunkler Hirsche“, ist fehlgeschlagen – es gibt keine Käufer.Der Restaurantbesitzers Leon bietet ihm an, die Tiere als Schlachtvieh zu übernehmen. Als Alf Alster das Angebot annimmt, stößt er auf heftigen Widerstand seiner Tochter Ria. Sie lässt die Tiere frei und plant, mit August, einem ehemaligen Kommilitonen ihres Vaters, das Elternhaus zu verlassen. Auch Alfs zweite Frau Nadja hat es satt, ein farbloses Leben im Erinnerungsschatten an Alfs erste Ehe zu führen. Die lange schon schwelenden Konflikte flammen auf und greifen Raum. Das Ungesagte, Ungelebte, der nicht empfundene Schmerz über Verluste, Enttäuschungen und wuchernde Vorurteile, über den Mangel an Respekt und Liebe, dem sich alle Familienmitglieder ausgesetzt fühlen, lassen sich nicht mehr unterdrücken und kontrollieren. Das Stück markiert eine Zäsur im Leben der Familie Alster, die pars pro toto für die postsowjetische lettische Gesellschaft steht. Nach dem großen gesellschaftlichen Umbruch, nach einer Zeit des Handelns, des Reagierens auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen, in der auch viele persönliche Bedenklichkeiten, alte Wertvorstellungen den neuen Zwängen und Normen geopfert worden sind, wird eine Selbstbefragung unausweichlich: wohin ist man gekommen, was ist aus den Hoffnungen und Sehnsüchten des Aufbruchs geworden, sind die Opfer zu rechtfertigen? Der desaströse Zustand der Familie scheint alle Bemühungen, im neuen Leben Fuß zu fassen, ad absurdum zu führen…
Die Schüsse, mit denen Ria am Ende ihre geliebten Tiere selbst tötet, erlösen die Situation aus ihrer unausweichlich scheinenden Mechanik, aus dem sinnentleerten Selbstlauf: in der Katastrophe können sich Vater und Tochter wieder in Ehrlichkeit und Liebe begegnen – ein Ende und ein möglicher Anfang.